Moria

Arzt zurück aus der Hölle von Camp Moria

Er hat viel erlebt, aber im Flüchtlingscamp auf Lesbos kam selbst der erfahrene Helfer Dr. Christoph Zenses an seine Grenzen.

Von Uli Preuss


Es fehlt zuviel: Dr. Christoph Zenses vor dem schlecht gefüllten Medikamentenregal in seiner griechischen Behelfspraxis. © Zenses

Zustand nach Folter, Zustand nach Vergewaltigung bei Frauen und Männern, Geschosse und Bombensplitter, die noch in den Getroffenen stecken: Es klingt medizinisch so nüchtern, doch für die Flüchtlinge im griechischen Camp Moria bedeuten diese Diagnosen Leben und Alltag. Der Solinger Arzt Dr. Christoph Zenses weiß jetzt: Es gibt Wunden an Körper und Geist, die entstehen dann, wenn Menschen Menschen hassen.

Zwei Wochen lang hat der Ohligser Internist auf der griechischen Insel Lesbos diese Verletzungen gesehen, täglich, stündlich, Tag und Nacht. Manchmal an Flüchtlingen, die seit mehr als zwei Jahren im berüchtigten Lager leben müssen, manchmal auch, wenn in der Nacht ein Boot mit Flüchtlingen über das Meer kam und an den Strand der Touristeninsel Lesbos gespült wurde.

Für das Emergency Response Centre International (ERCI), einer kleinen Hilfsorganisation, die sich ehrenamtlich um kranke und verletzte Flüchtlinge auf Lesbos kümmert, hat Dr. Christoph Zenses 14 Tage lang die Arbeit des „Senior Doctor“ im Camp übernommen. Freiwillig, so wie er ein Jahr zuvor auch als Schiffsarzt auf dem Flüchtlingsschiff „Sea Watch“ auf dem Mittelmeer war. Damals retteten Zenses und die deutsche Crew weit über 1000 Schiffbrüchige.

„Ich hatte jetzt ein kleines Team von vier Helfern“, sagt Christoph Zenses über seine Arbeit im Flüchtlingscamp. Engagierte junge Mediziner seien das gewesen, aus Schottland, Frankreich oder den USA, erzählt der 58-Jährige.

Im Camp Moria leben 6000 Menschen, dabei ist das ehemalige Militärcamp nur für 2200 Personen eingerichtet worden. Drangvolle Enge, die Panik und Streit unter den Flüchtlingen schafft, prägen den Alltag in Moria.

Rund 100 Patienten hätten sie versorgt – täglich ab acht Uhr morgens, berichtet der Ohligser Arzt. Mit den Farben rot, gelb und grün wurden die Patienten in schwere und leichte Fälle unterteilt. „Alle, die kamen, haben wir am Tag sowieso nicht versorgen können“, erinnert sich Christoph Zenses. Darunter Menschen mit nicht verheilten Brüchen nach Gewaltanwendungen, Hautverletzungen, Krätze oder Tuberkulose. Besonders häufig sei ein Ganzkörperschmerz, ausgelöst vom monatelangen Schlafen auf dem harten Zeltboden. Und immer wieder diese Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) bei denen, die mit ansehen mussten, wenn Familienmitglieder star-ben.

Bei alledem kaum eine Möglichkeit, schwere Fälle in die benachbarten griechischen Krankenhäuser zu überweisen. „Die“, so Zenses, „platzen sowieso schon aus allen Nähten.“ Rar zudem die Medikamente.

„Das Camp mit seinem Sprachengewirr, mit seiner Perspektivlosigkeit und Enge sei ein Raum fortwährender Ausnahmezustände. Christoph Zenses erinnert sich: Mit Tasche und Funkausrüstung rannten er und zwei Begleiter (kleiner darf ein Medicteam aus Sicherheitsgründen nicht sein) zu einem Notfall ins Aufnahmelager. „Kaum zurück, fing dieser Aufstand an, bei dem sich Flüchtlinge und rechte Demonstranten mit Eisenstangen bekämpften.“ Später kam die Polizei hinzu, sicherte die Mediziner. Ein Aufstand, der es in deutsche Medien schaffte und zeigt, wie gewalttätig der Alltag im weltweit berüchtigten Flüchtlingscamp ist. Auch am Abreisetag wurde Zenses sozusagen mit einer Notsituation verabschiedet. Die Nachtschicht von MMS wurde von verzweifelten Flüchtlingen angegriffen und musste sich in der Krankenstation verbarrikadieren.

Menschenrechtsorganisationen machen immer wieder auf die verheerenden Zustände in allen Flüchtlingslagen auf Lesbos aufmerksam. Allein in der Erstaufnahme auf Lesbos, die gerade für 3000 Flüchtlinge ausgelegt sind, warten derzeit mehr als 6500 Menschen auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge. Darunter nicht nur Afrikaner. An erster Stelle sind es Syrer, Afghanen und Iraker, die dort seit Jahren festsitzen.

Dieser Artikel erschien am 30. April 2018 im Solinger Tageblatt.