Moria

Reisebericht Lesbos 2.-8. Oktober 2020

Der Solinger Allgemeinmediziner und Mitglied von „Solingen hilft e.V.“, Dr. Werner Klur, berichtet von seinem ersten Einsatz auf Lesbos zu dem ihn Anfang Oktober 2020 auch Dr. Christoph Zenses begleitete. Die beiden besuchten das abgebrannte Lager Moria, in dem Dr. Zenses zuletzt noch behandelte, und trafen Abdulhadi von der NGO Kitrinos, sowie den Apotheker Natale, der für „Solingen hilft e.V.“ die Medikamentenversorgung vor Ort organisiert. Das neue Lager Kara Tepe, das als Ersatz für Moria aufgebaut wurde, und das alte Lager von Kara Tepe, wo die Physiotherapeutin Fabiola mit Geflüchteten arbeitet, standen ebenso auf dem Besuchsplan. Mit Fabiola und Dr. Gerhard Trabert versorgte Dr. Klur Abdulkarim und Zeinab, die in Deutschland angefertigte Prothesen bekamen. Zuletzt behandelte Dr. Klur im Camp Tapuat.

Freitag, 2. Oktober 2020

Christoph und ich sitzen im Flieger nach München, es ist 9 Uhr und wir haben das erste Problem erfolgreich gelöst. Beim Einchecken wurden wir von den Sicherheitsbehörden darauf aufmerksam gemacht, dass die Mitnahme von nur einer Powerbank pro Person erlaubt ist. Wir hatten etwa 25 Powerbanks dabei, die wir im Camp verteilen wollten. Wieder raus, die Banks am Schalter abgegeben und Jonas gebeten, die Dinger wieder abzuholen. Hat geklappt! Er musste nochmal zum Flughafen fahren, guter Junge… 😉

18.00 Uhr, sitzen im Flieger nach Lesbos. Am Flughafen Athen mussten wir neu einchecken und durch die Sicherheitsschleuse. Auch hier kamen wir problemlos durch. Zwischenzeitlich haben wir mit Fabiola und Dr. Gerhard Trabert Kontakt gehabt. Ich werde mich um eine junge beinamputierte Frau kümmern, damit sie eine neue Prothese erhält, welche beim Brandunglück wohl zerstört wurde. Mit einer Checkliste über Maße und einem Gipsabdruck des Beinstumpfes will ein Orthopädietechniker in Mainz versuchen, mit den Ergebnissen eine neue Prothese zu bauen. Ich bin wegen der Erstellung eines Stumpfabdruckes skeptisch, ob das klappt.

Samstag, 3. Oktober 2020

Wir treffen wir uns mit dem Apotheker Natale in Mytilini wie vereinbart. Wir gehen gemeinsamen in ein Café, und er berichtet über die aktuelle Lage vor Ort. Nach dem Brand habe sich für alle die Situation noch mehr verschlechtert. Die Situation im neuen Camp sei dramatisch, die Flüchtlinge leben in großen Zelten eng nebeneinander. Diese haben keinen Boden, das heißt die Menschen liegen auf Schotter und sind den ganzen Tag der Sonne ausgesetzt. Viele Zelte liegen unmittelbar am Meer. Wir haben uns am Nachmittag davon überzeugen können, als wir im Camp waren. Natale meint, sobald der erste Regen kommt, werden die Zelte weggespült, bzw. der erste stärkere Wind fegt die Zelte weg. Auf Lesbos schlägt spätesten im November das Wetter um.

Die Medikamentenversorgung komme langsam wieder in Gang, da auch die medizinische Versorgung im neuen Camp wieder starte. Er spricht auch die heimische Bevölkerung an, die unglaublich unter der Situation leide. Diese hält nun schon einige Jahre an und viele hätten bereits ihre Existenz verloren, da der Tourismus komplett weggebrochen sei. Geschäfte, Bars, Restaurants und Hotels hätten zwar auf, aber zu wenig Gäste. Obwohl die NGOs zahlreich auf der Insel vertreten seien und humanitäre Hilfe leisten, würden diese auch von der einheimischen Bevölkerung mit dafür verantwortlich gemacht, dass sich die Situation nicht ändere und sie diesen katastrophalen Zustand mit aufrechterhalten. Die Bevölkerung ist gespalten.

Die ehemals beliebte Urlaubsinsel Lesbos leidet unter dem andauernden Ausnahmezustand. Fotos: Dr. Werner Klur

Nachdem wir das Geschäftliche mit ihm geregelt haben treffen wir uns mit Abdulhadi. Er kommt direkt aus dem Camp, wo die NGO Kitrinos die medizinische Versorgung wieder aufbaut. Er leitet, koordiniert und managt die NGO und weiß zu schätzen, wie hilfreich unsere Unterstützung ist. Wir fahren mit ihm zum neuen Camp und er zeigt Christoph die neuen Arbeitsbereiche der NGOs. Er hat große Angst, fremde Personen mitzubringen, sodass ich außerhalb des Camps auf sie warte. Da Abdulhadi Christoph gut kennt und dieser einen griechischen Arztausweis und das Kitrinosschild um den Hals hängen hat, sieht er kein Problem, ihn mitzunehmen. Er hat großen Respekt vor den Sicherheitsbehörden und scheint große Angst vor einer persönlichen Strafverfolgung zu haben. Vor dem Camp steht eine Riesenschlange von Menschen, die zurück ins Camp wollen. Sie werden alle einzeln auf Waffen und Alkohol untersucht und müssen alles auspacken, was sie in ihren Tüten mitbringen. 300 Menschen dürfen täglich das Camp zum Einkaufen verlassen. In der Nähe ist ein Lidl, der zwei Eingänge hat, einen für Flüchtlinge, einen für den Rest der Kunden. Das nenne ich „Rassentrennung“…

Bevor wir zum neuen Camp gefahren sind, begleiten wir Abdulhadi zu einer Station von UNICEF Tapuat, wo ca. 300 Menschen leben, die aus verschiedenen Gründen aus dem Camp herausgeholt wurden.

Hier leben viele junge Mütter mit kleinen Kindern, aber auch alleinstehende Jugendliche. Wir gehen in die medizinische „Abteilung“, ein Raum mit Liege, Schreibtisch und eine Ablage für Medikamente. Ein junge Ärztin aus England schildert uns kurz ihre Arbeit und Abdulhadi fragt mich, ob ich den letzten Tag meines Aufenthaltes hier arbeiten möchte. Ich sage sofort zu.

Während der Fahrt mit Abdulhadi nennt er viele konkrete Wünsche, die der Verein finanziell unterstützen kann. Für die kommenden drei Monate sichern wir ihm die Finanzierung von drei Ärzten zu. Seit dem Brand ist das Angebot von freiwilligen Ärzten enorm gestiegen, sodass er auf einen großen Pool engagierter Freiwilliger zurückgreifen kann und auch die Voraussetzungsbedingungen an die Ärzte anpassen kann. Jedoch wünscht er sich dringend einen Arzt, der wenigstens drei Monate bleibt und auch Management-Aufgaben mit übernehmen kann, da die NGO Kitrinos sich auch um das Camp auf Samos kümmert. Hierhin kommt auch ein verantwortlicher Arzt und Abdulhadi möchte ebenfalls für eine Weile nach Samos. In diesem Camp leben 6000 Flüchtlinge unter den gleichen katastrophalen Bedingungen wie auf Lesbos. Das Camp ist ursprünglich für 650 Menschen gedacht gewesen. Die Versorgung dort ist aktuell wohl sehr schlecht, da viele NGOs wie z.B. Ärzte ohne Grenzen oder das UN-Flüchtlingshilfswerk nur wenige Vertreter dorthin schicken, da andere Projekte höhere Priorität haben. Christoph konnte in Erfahrung bringen, dass dort aktuell nur 50 Hilfskräfte vor Ort sind. Man merkt Abdulhadi den Stress und die große Belastung an, die auf seinen Schultern liegt.

Später fahren wir noch zum abgebrannten Camp Moria. Dort sind keine Wachen, Security oder Polizei, sodass wir problemlos aufs Gelände kommen. Die Bilder sind erschreckend und man kann sich nicht vorstellen, was hier für ein Feuer gewütet haben muss. Alle Fotos oder Filme geben nicht den Eindruck wieder, den wir jetzt direkt vor Ort erhalten. Für Christoph ist es umso schwerer, da er das Camp noch im laufenden Betrieb erlebt hat. Wir gehen über das ursprünglich für 3000 Menschen gebaute Camp, was nahezu vollständig abgebrannt ist. Der medizinische Container ist total verwüstet. Er wurde vom Feuer zwar verschont, aber man hat alles rausgeholt, was noch zu verwenden war. Bäume sind abgebrannt und es stehen nur noch schwarze Baumstämme herum. Die Bilder brennen sich einem in den Kopf.

Dr. Christoph Zenses in der zerstörten Gesundheitsstation im ehemaligen Camp Moria. Fotos: Dr. Werner Klur

Wir gehen durch den Zaun, den das ursprüngliche Camp von dem Außenbereich abtrennt. Ein riesiges Gebiet in einem ehemaligen Olivenhain, der zum großen Teil abgeholzt ist an Stellen, wo die Zelte der Flüchtlinge gestanden haben. Es ist drückend heiß hier und wir haben Oktober, man sieht noch zahlreiche notdürftig gebaute Schattenplätze, wo die Menschen Schutz vor der Sonne gesucht haben. Das Camp ist durch einen Graben getrennt, über den viele kleine Brücken gebaut sind, welche zum größten Teil zerstört sind. Wir gehen einmal um das Camp herum. Auf der hinteren Seite steht die Ruine einer Moschee, die sich die Menschen hier selbst gebaut hatten. An vielen Kleinigkeiten kann man sehr gut erkennen, mit welcher Energie, Fantasie und Geduld die Flüchtlinge sich in dieser Not aus den einfachsten Dingen ein soziales Leben aufgebaut haben, welches komplett mit verbrannt ist. Was für ein schreckliches Drama.

Es sind einige Menschen auf dem Gelände, die nach brauchbaren Gegenständen suchen. Ein Wagen ist vollgepackt mit Metallblechen. Es handelt sich nicht um Flüchtlinge, sondern wie man uns sagte um Szinti und Roma, die das ganze Blech aus dem verbrannten Camp herausholen und den Schrott verkaufen. Dies wird von den Behörden geduldet, da so ein Teil des Camps bereits ohne Kosten abgerissen wird.

Vom ausgebrannten Lager auf Moria ist nicht viel geblieben. Fotos: Dr. Werner Klur

Anschließend fahren wir erneut zum neuen Camp Kara Tepe. Man hat hier um das alte Camp ein deutlich größeres aus dem Boden gestampft. Auch wenn uns Abdulhadi gewarnt hat, das Gelände zu betreten, gehen wir einfach an der doch hohen Polizeipräsenz vorbei, unsere Schildern „Solingen hilft e.V.“ um den Hals und kommen wie selbstverständlich auf das Gelände, an den NGO-Zelten vorbei, die am Anfang stehen und etwas weiter dahinter an den Zelten vorbei, um einen ersten Eindruck zu bekommen. Am Anfang spricht Christoph noch zwei Polizisten an, um nach der Zeltnummer 784 zu fragen. Die Beamten sind aber sehr nett und hilfsbereit. Wir können ungehindert weitergehen und bekommen keine unangenehmen Fragen gestellt. Natürlich war uns bekannt, dass am Vortag ein NGO-Arzt aus dem Camp von der Polizei abgeführt wurde. Abdulhadi wusste nicht warum. Das scheint Abschreckungsstrategie zu sein. Die Festgenommenen werden stundenlang verhört, ein uns bekanntes Mitglied einer anderen NGO hat diese Erfahrung einmal gemacht und hat die Insel danach sofort verlassen.

Am Abend treffen wir noch Friederike, eine Kollegin aus München, die die nächsten zwei Monate im Camp bei Kitrinos arbeitet. Sie ist Internistin und Rheumatologin und macht eine „Klinikpause“ auf unbestimmte Zeit.

Sonntag, 4.Oktober 2020

Christoph sitzt im Flieger zurück nach Deutschland. Nachdem ich ihn zum Flughafen gebracht habe, mache ich noch eine kleine Runde über diese schöne Insel. Bin froh heute alleine die ganzen Eindrücke und Geschehnisse des gestrigen Tages zu verarbeiten, mein Kopf ist voll. Dinge ändern sich hier wirklich stündlich.

Später nehme ich noch Kontakt mit Fabiola auf, um mit ihr das morgige Treffen zu besprechen. Wir werden zu Abdulkarim fahren und ihm die mitgebrachte Orthese anpassen. Er lebt derzeit in einer Pension, Fabiola ist es gelungen, ihn aus dem Lager zu holen, wo er unter den Bedingungen elend verreckt wäre. Er ist querschnittsgelähmt unter TH4 und somit an den Rollstuhl gefesselt. Fabiola betreut ihn schon einige Zeit, sie ist Physiotherapeutin und lebt auf der Insel. Sie und Dr. Gerhard Trabert kennen sich gut und haben unmittelbar nach dem Brandausbruch erste medizinische Hilfe auf der Straße geleistet.

Ein weiteres Mädchen, das von den beiden betreut wird, ist Zeinab. Die 19-jährige junge Frau hat seit Geburt einen Unterschenkelstumpf und konnte bisher nur mit Prothese laufen. Die Prothese wurde beschädigt bzw. durch die schlechten Bodenverhältnisse im Moria Camp zerstört.

Montag, 5. Oktober 2020

10 Uhr. Fahre nochmals zum neuen Camp, um Masumeh und Mohammad Reza anzutreffen. Sie leben in Zelt 784, die Info hat Christoph durch seine Kontakte erfahren. Vor dem Camp ist wie am Samstagmorgen eine riesige Menschenschlange, die einkaufen war und zurück will. Jede Tasche wird wie immer penibel geprüft.

Ich gehe mit meinem „Solingen hilft e.V.“-Schild um den Hals direkt zum Eingang und werde von einem Polizisten angesprochen. Er fragt mich, ob ich legitimiert sei, ins Camp zu gehen und zeigt mit dem Finger auf mein „Solingen hilft e.V.“-Schild. Habe ja geantwortet und konnte passieren. Das Adrenalin spüre ich jetzt noch. Auf dem Weg durchs Camp habe ich einen jungen NGOler nach dem Zelt 784 gefragt, welches sich in Meeresnähe befindet. War beim Zelt von Masumeh, aber alle waren unterwegs.

Im Camp ist ein unglaublicher Aktionismus. Unter anderem werden gerade mit Baggern schmale Gräben gezogen, um neue Wasserrohre zu verlegen. Sehr viele NGOs arbeiten hier, das Rote Kreuz hat mit einem Rettungswagen und einem Zelt davor eine kleine Krankenstation mitten im Camp aufgestellt. Sehr viele Kinder sind hier und spielen vor allem in den Plastik-Entsorgungsstationen. Ich habe nicht den Eindruck, dass das Camp schnell wieder zu gemacht werden soll. Die Zelte stehen dicht an dicht, die meisten auf Schotterboden, nur wenige haben Holzpaneelen unter den Decken. Alle Zelte sind vom UNHCR, ich denke ca. 12 Personen leben jeweils darin.

Im neuen Camp Kara Tepe ist die Versorgung höchstens rudimentär zu nennen. Fotos: Dr. Werner Klur und Dr. Christoph Zenses

Es ist etwa 30°C heiß, Richtung Meer ist es etwas windiger und somit erträglicher. Und überall Polizeipräsenz in Wagen oder zu Fuß. Bin aber alleine doch durch die hohe Polizeipräsenz heute wesentlich mehr eingeschüchtert als zu zweit mit Christoph und verlasse das Camp nach ca. einer halben Stunde wieder.

15.30 Uhr treffe ich mich mit Fabiola am Eingang des alten Camps Kara Tepe. Dort ist eine Kontrollstation, an der ich diesmal trotz „Solingen hilft e.V.“-Button und gutem Zureden der netten Polizistin nicht vorbeikomme. Sie fand mich nicht auf der Registrierungsliste… auch hier: Kontrolle von jedem, der raus- oder reingeht.

Gemeinsam fahren wir zu Abdulkarim. Die Pension, in der er derzeit wohnt, ist ein großes Haus, wo mehrere behinderte Flüchtlinge untergebracht sind. Jeder hat ein kleines Zimmer mit Bad und WC. Fabiola bereitet sich auf die Therapie mit ihm vor, während Abdulkarim gerade ein wichtiges Telefonat mit der griechischen Regierung führt. Dabei geht es um die Ausreise nach Deutschland, die Dr. Gerhard Trabert eingefädelt hat. Er hat wohl die mündliche Zusage gerade erhalten, dass er und sein Cousin nach Deutschland ausreisen dürfen. Aber erst wenn die schriftliche Bestätigung der griechischen Behörden vorliegt, gibt es einen Grund zum Feiern. Dennoch ist schon jetzt die Freude groß, dass sich endlich etwas bewegt, trotz bleibender großer Skepsis.

Abdulkarim wird von seinem Rollstuhl auf den Boden gelegt, wo ich die Gelegenheit nutze, ihn einmal von Kopf bis Fuß zu untersuchen. Er ist ab TH4 gelähmt, hat aber noch Missempfindungen in den Beinen und Schmerzen im Rücken. Er muss sich selbst katheterisieren, was wohl immer sehr schmerzhaft ist. Werde versuchen über den Apotheker Anästhesie-Gel zu bekommen, was die Sache vielleicht etwas erleichtert. Dolmetscher ist Ahmed, der in der Pension arbeitet. Er spricht etwas deutsch, er war vor 10 Jahren ein Jahr in Deutschland. In Frankfurt leben noch seine Mutter, seine Schwester und ein Bruder. Abdulkarim erhält Ciprofloxacin, ein Antibiotikum als Dauertherapie, welches bei uns wegen der Nebenwirkungen schon länger nicht mehr in der Dauerbehandlung eingesetzt wird. Durch die ständige Katheterisierung ist er hochgefährdet für bakterielle Harnwegs- oder Blaseninfekte, die bis zur Nierenbeckenentzündung und Sepsis führen können. Cipro 500mg jeden dritten Tag halte ich für eine schlechte Therapie und telefoniere mit der Apotheke, die mir sofort eine größere Menge eines Alternativpräparates zusagen kann.

Danach macht Fabiola ca. 30 Minuten Therapie mit ihm, was ihm scheinbar sehr gut tut. In der Zwischenzeit kümmere ich mich um den Cousin von Abdulkarim, der durch einen Bombenunfall den linken Fuß schwer verletzt bekam. Die Wunden sind jetzt alle zugeheilt, aber der Fuß ist deutlich deformiert und ausgeprägte Hyperkeratosen, die beim Laufen schmerzen, befinden sich am Fußaußenrand. Ursprünglich sollte der Fuß amputiert werden, was der junge Mann aber abgelehnt hat. Er kann relativ gut damit ohne Gehhilfe laufen, hat jedoch wie erwähnt deutliche Schmerzen beim Laufen. Er benötigt einen orthopädischen Schuh, der hier auf der Insel nicht herzustellen ist. Vielleicht können wir einen Therapieschuh besorgen.

Danach bauen wir die Orthese zusammen und sind glücklich, dass sie Abdulkarim von der Größe her auf Anhieb passt. Alle sind wirklich happy! Mit der Orthese kann Abdulkarim deutlich aufrechter im Rollstuhl sitzen und knickt nicht immer in sich zusammen wie bisher. Das entlastet seine Wirbelsäule und auch die Muskulatur und wird seine Schmerzen reduzieren. Er ist unglaublich dankbar für das Teil.

Abdulkarim passt die neue Prothese perfekt. Fotos: Dr. Werner Klur und Dr. Gerhard Trabert

Anschließend fahren Fabiola und ich noch zu Nico in eine Bar etwas nördlich von Kara Tepe. Er spricht sehr gut Deutsch, da er vier Jahre in Deutschland gelebt hat. Er beschreibt noch einmal, wie schwer die Einheimischen unter der Flüchtlingskrise auf der Insel leiden und wie sie sich von den Regierungen Griechenlands und der ganzen EU im Stich gelassen fühlt. Fabiola berichtet lange über ihre bisherige Tätigkeit im alten Moria Camp und die Zustände, die sich im Laufe der Zeit dort entwickelt haben. Aufgrund der Perspektivlosigkeit und der langen Dauer und der untragbaren Verhältnisse haben sich kriminelle Strukturen im Camp entwickelt, durch die sich alle Formen der Gewalt entwickelt hätten. Insbesondere Gewalt an Frauen und Kindern einschließlich sexueller Übergriffe hätten sie sehr traurig, nachdenklich, verzweifelt und machtlos gemacht. Auch manchen NGOs macht sie große Vorwürfe, die diese Taten nicht sehen wollten oder gesehen haben. Durch ihre Tätigkeit hat sie einen wesentlich näheren Kontakt zu den Menschen, als z.B. die Ärzte, die in den Ambulanzen arbeiten. Die würden zu häufig Schmerzmittel verschreiben und die eigentlichen Probleme gar nicht erkennen. Geht auch gar nicht, wenn man bis über 100 Patienten am Tag „durchschleusen“ muss. Viele Mediziner seien auch sehr jung und unerfahren, was die Sache zusätzlich erschwert. Kaum jemand kennt sich mit den kulturellen Hintergründen der Menschen im Lager aus, man schaue nur nach körperlichen Befindlichkeiten. Aber der Zustand, nicht zu wissen wie es weitergeht, die Perspektivlosigkeit und keine Zukunft zu haben und die damit verbundenen seelischen Qualen werden nicht gesehen.

Dienstag, 6. Oktober 2020

Treffe mich gegen zwölf mit Fabiola im alten Camp Kara Tepe. Sie hat mich angemeldet und registriert, sodass es mit meinem Einlass ins Camp keine Probleme gibt. Wir machen einen Rundgang über das alte Camp. Es ist wirklich, wenn man überhaupt davon sprechen darf, vorbildlich im Vergleich zu den katastrophalen Verhältnissen im neuen Camp. Hier gibt es nur Wohncontainer, keine Zelte, viel Platz, eine Schule, Kindergarten, Spielplatz, optimale sanitäre Anlagen und fußballspielende Kinder. Bin positiv überrascht. Heute ist das Camp recht leer, da viele wohl erneut zur Registrierung fort sind.

Fabiola kann im alten Camp Kara Tepe unter vergleichsweise guten Bedingungen arbeiten. Fotos: Dr. Werner Klur

Wir gehen über das Gelände zu ihrem Container, wo sie Patienten behandelt. Fabiola behandelt ca. 6-8 Patienten am Tag. Sie hat somit viel Zeit, um sich auch um andere Probleme der Menschen zu kümmern. Die meisten ihrer Patienten sind Frauen und schwer traumatisiert, da oft schwerer sexueller Gewalt ausgesetzt. Vergewaltigungsopfer gibt es hier viele und ich bin beeindruckt, wie Fabiola diesen Frauen mit ihren bescheidenen Mitteln Hilfe zukommen lässt. Unterstützt wird sie von einem Dolmetscher, der seit zwei Jahren im Camp lebt. Auch ältere, gebrechliche Menschen kommen in den Container, denen sie physiotherapeutisch hilft.

Gegen fünf am Nachmittag treffen wir uns bei Zeinab, die mit mehreren Flüchtlingen in einem Haus in der Innenstadt von Mytilini lebt. Dieses und auch andere Wohnungen sind von der UNHCR angemietet, um besonders traumatisierte und/oder gefährdete Menschen außerhalb des Camps unterzubringen. Sie ist 19 Jahre alt und ohne linken Unterschenkel geboren worden. Die Prothese, die sie seit 8 Jahren hatte, ist im Moria Camp so stark beschädigt worden, dass sie nicht mehr zu gebrauchen war. Gerhard Tabert ist es zu verdanken, dass nun eine neue in Mainz hergestellt wird. Die alte Prothese ist schon dort, nur das Maßblatt muss noch erstellt werden. Zeinab wirkt sehr kindlich und hat dauernd ein Lächeln im Gesicht. Sie hat keine Schule besucht und wurde von ihrem Ehemann gekauft. Aus der Region Afghanistan, wo sie herkommt, ist das noch übliche Tradition. Sie und ihre kleine Schwester wurden bereits als Kinder vergewaltigt. Zeinabs Schwester ist 17 Jahre alt und hat bereits ein vierjähriges Kind. Sie wurde im Moria Camp erneut vergewaltigt und obwohl der Täter bekannt war, haben die Behörden nichts unternommen.

Zeinab bekommt eine neue Prothese angepasst. Fotos: Dr. Gerhard Trabert und Dr. Werner Klur

Mittwoch, 7. Oktober 2020

Habe mich mit Abdulhadi für 9.15 Uhr verabredet, um mit ihm nach Tapuat zu fahren. Dies ist eine ehemalige Schule, die nach dem Brand in Moria schnell in eine Notunterkunft umgebaut wurde. Hier leben vor allem Mütter mit kleinen Kindern und in einer „Minor Area“ etwa 20 jugendliche Männer. Etwa 300 Menschen sind hier untergebracht, ganz genau konnte mir das niemand sagen. Tapuat hat eine kleine Krankenstation, wo ich heute arbeiten soll. In der kleinen Krankenstation treffe ich Dan, Arzt aus UK und eine Studentin aus Deutschland im letzten Studienjahr. Sie arbeitet den Ärzten mehr zu und behandelt nicht selbständig Patienten. Die Sprechstunde hat schon begonnen und ruckzuck habe ich ein vier Monate altes Baby als Patient vor mir. Die Mutter war schon mehrfach da, das Kind habe seit 5 Tagen immer wieder erhöhte Temperatur. Ich untersuche die Kleine von Kopf bis Fuß, ich habe die Zeit dafür, alles wird hier sehr gewissenhaft und gründlich gemacht. Die Kleine hat einen viralen Infekt und ist etwas dehydriert. Die Mutter erhält von mir Paracetamolsaft und den Auftrag, dem Kind etwas mehr zu trinken zu geben. Die ganze Zeit ist ein Dolmetscher dabei, der übersetzt. Die Mutter ist sehr unzufrieden mit dem Ergebnis, sie wünscht ein Antibiotikum für ihr Kind, es sei nun schon fünf Tage krank. Ich erkläre ihr sehr ausführlich, dass ein Antibiotikum bei einem Virusinfekt nicht helfe und sie Geduld haben müsse. Wenn es dem Kind schlechter gehen sollte, solle sie sich sofort wieder vorstellen.

Die Krankenstation in Tapuat. Fotos: Dr. Werner Klur

Dan betreut in der Zwischenzeit im gleichen engen Raum und behandelt einen kleinen jungen, acht Monate etwa alt, das Kind wirkt sehr krank, ist adynam und die Mutter hält es besorgt im Arm. Die Anamnese ist wegen der Sprachbarrieren nicht einfach. Er untersucht das Kind, alle Befunde sind unauffällig, aber dennoch fehlt dem Kind etwas. Er schickt die Mutter mit dem Jungen ins Krankenhaus. Eine Stunde später sind sie zurück mit Laborwerten und U-Status und kurzem Befund. Alles auf Griechisch, neuer Dolmetscher muss her, der griechisch kann. Antibiogramm des Urins direkt dabei, sehr gut, aber was resistent oder sensibel heißt, wissen wir erst mit Übersetzerin. Im Urin werden Klebsiella pneumonia gefunden, das Antibiogramm erweist Ciprofloxacin und Cepholosporine 2. Generation (sind schwer zu kriegen) als sensibel auf. Da der Junge so ruhig und antriebslos wirkt, überlegen wir gemeinsam, ob er in die Klinik muss. Wir entscheiden: hier und jetzt beobachten, viel Trinken und Ciprofloxacin als Saft besorgen.

Anschließend kommen noch zwei Kinder mit Chickenpox zu mir, habe lange keine Windpocken mehr gesehen und behandelt. Die machen Juckreiz und Fieber und die Bläschen tun weh bevor sie aufplatzen. Fieber wird übrigens bei allen sofort als erstes gemessen. Versorge die Kleinen mit Paracetamol, Cetirizin und einer Hautlotion. Die Medizin hier muss ohne technische Hilfsmittel auskommen. Werden welche benötigt, gehen die Menschen kurz ins Krankenhaus. Da war das Camp Moria besser aufgestellt, hatte Sono und EKG.

Kurz nachdem wir darüber gesprochen haben, kommt eine junge Frau herein, die sich vor Bauchschmerzen krümmt. Sie ist bekannt, hat große Myome in der Gebärmutter und blutet ständig. Ich untersuche kurz ihren Bauch. Bei uns würde sie sofort als „akuter Bauch“ behandelt und zügig operiert. Hier nicht. Im Krankenhaus, wo sie schon war, wurde sie wieder abgewiesen, da man dort solche gynäkologischen Operationen nicht durchführt. Sie muss nach Athen, worum man hier momentan kämpft. Also Therapie jetzt? Paracetamol hochdosiert. Habe mit Dan über Alternative wie Ibuprofen gesprochen, er war zögerlich wegen der Blutungen. Novaminsulfon gibt es hier nicht, da ist UK zurückhaltend. Stärkere Schmerzmittel wie Tilidin oder Tramadol gibt es nicht. Ob die junge Frau das hier alles überlebt, wissen wir nicht. Täglich wird die Dringlichkeit der Überführung nach Athen neu besprochen.

Zuletzt sehe ich noch ein kleines Baby, das seit zwei Tagen keinen Stuhlgang und wenig getrunken hat. Wieder komplette Untersuchung, musste immer wieder unterbrochen werden, da die Kleine so schrie. Meine erste Befürchtung, das dem Baby Gewalt angetan wurde, hat sich nicht bestätigt. Draußen im Flur sehe ich, dass die Kleine wieder trinkt, die Mutter stillt sie. Soll sich wieder vorstellen, wenn das Kind nicht macht. Hier sieht man viele solcher Kinder, die dehydriert sind und dadurch unter Verstopfung leiden.

Die Schicht geht bis um eins, dann gehen wir noch in die Minor Area zu den jugendlichen Männern. Die Sprechstunde dort ist eine Stunde lang. Mehrere Jungen kommen, da sie z.B. Schmerzmittel benötigen. Schulter- und Rückenprobleme haben viele. Auf dem Boden zu schlafen ist sehr schmerzhaft. Ein junger Mann kommt mit Husten seit fünf Wochen. Ca. 10 Minuten Anamnese durch Dan, er lässt nichts aus, gute internistische Ausbildung, denke ich! Untersucht ihn, die Lunge ist okay, keine pathologischen RG, keine Spastik. Wir beraten gemeinsam, wie es weitergeht. Der Husten tritt vor allem nachts auf, eine akute bakterielle Bronchitis ist eher auszuschließen. Asthma oder TBC, an die man hier immer sofort mitdenken muss. Wir entscheiden zunächst mit einem spasmolytischen Dosieraerosol zu behandeln, in einer Woche muss er sich wieder vorstellen.

14 Uhr steht schon der Bus vor der Tür, der die Freiwilligen hier abholt. Sie fahren zum großen Camp zurück, haben noch Besprechung und danach frei. Ich spreche noch kurz mit Abdulhadi, er will mit mir noch in eine Bar gehen, wobei ich weiß, dass das bei seinem Terminkalender nicht klappen wird. Fahre zurück nach Mytilini.

Später laufe ich noch einmal durch die Stadt zu Zeinab. Der Techniker, der die Prothese baut, benötigt noch neue Fotos von dem Beinstumpf. Gerhard hatte mir das gepostet. Der Ehemann wartet unten auf der Straße, wir gehen gemeinsam ins Haus. Sie sind heute hierher umgezogen. 3. Etage, großzügige Wohnung, es gefällt ihnen. Mache Fotos und nehme nochmal Kontakt zu Fabiola auf, sie hat das Geld, was ich ihr noch gegeben habe direkt in Medikamente für drei ihrer Patienten ausgegeben. Sie macht das hier alles sehr gut, ist mit unglaublichem Herzblut dabei und gibt vielen Menschen eine enorme Zuwendung.

Donnerstag, 8. Oktober 2020

Christos vom Autoverleih kommt pünktlich um 10 zum Treffpunkt und wir gefahren gemeinsam zum Flughafen. Auch er total zuverlässig. Hatte vor zwei Tagen das Licht im Wagen angelassen, was unweigerlich die Batterie leer macht. Er rief mich an, um mir das mitzuteilen. Er war mit einem anderen Kunden auf dem Parkplatz und hatte es gesehen. Glück gehabt. Wagen sprang noch an. Sitze jetzt im letzten Flieger nach Düsseldorf.