Solingen hilft – vor Ort in Athen und auf Lesbos
Hinsehen, Zuhören und effektiv helfen – den Menschen die Würde bewahren
In der ersten Juni-Woche 2021 reiste das Solingen hilft–Team mit Dr. Christoph Zenses, Dr. Werner Klur, Ilona Fiedler und Barbara Eufinger nach Athen und Lesbos.
Ausführliches Tagebuch von Dr. Werner Klur [pdf, 2MB]
In Athen besuchten wir eine Praxis für Geflüchtete, die vom Verein Kitrinos Health Care eingerichtet wurde und mit dem wir seit Jahren eng zusammenarbeiten. Für diese Praxis hatten Dr. Zenses und Dr. Klur ein Ultraschallgerät und Medikamente im Gepäck. Dr. Klur ist eine Woche in Athen geblieben und hat dort Menschen untersucht.
Für mich war es der erste Besuch vor Ort. Ich bin beeindruckt von den Aktiven dort, vielfach selbst geflüchtete Menschen, die genau wissen was nötig ist. Vor Ort wird mit viel Energie, Engagement und Herz das getan, was die EU nicht leistet. Unsere Spenden werden sehr effizient und gezielt eingesetzt.
Barbara Eufinger
Durch die Spenden und die Finanzierung von Medikamenten können zum Beispiel Diabetiker das für sie lebensnotwendige Insulin erhalten. Das Team vor Ort übernimmt die Behandlung von Menschen, die vorher schon in Moria durch Kitrinos behandelt wurden, aber jetzt eben in Athen gestrandet sind. Es gibt für sie vom Staat keine Unterstützung oder medizinische Hilfe. Solingen hilft finanziert in Athen, auf Lesbos, Samos und Chios die Versorgung mit Medikamenten, Praxis-Räumlichkeiten und Personal.
Über 45.000 geflüchtete Menschen leben aktuell in Athen, zum Teil auf 13 Lager verteilt, viele aber auch in leerstehenden Häusern oder auf der Straße. Am Viktoriaplatz in Athen treffen sich unter anderem die Menschen, die in Lesbos ihre Asyl-Anerkennung bekommen haben. Viele kommen aus Afghanistan, da deren Anerkennungsquote über 65 % liegt. Wir haben uns mit ihnen über ihr Schicksal unterhalten, darunter junge Männer, aber auch viele junge Frauen mit ihren Kindern.
Wer anerkannt ist, hat keinen Anspruch mehr auf Geld. Sie leben von Nichts, es fehlt an allem. Trotzdem versuchen sie sich ordentlich zu kleiden und sind zu uns sehr freundlich. Viele sind inzwischen schon mehr als drei Jahre unterwegs. Von Moria, Lesbos jetzt nach Athen, ohne Arbeit, Schule, Geld und Perspektive – wie halten sie das bloß aus? Einige schauen mit leeren Blicken vor sich hin – ihre Hoffnungslosigkeit ist zum Greifen nah. Eine junge Frau zeigt uns ihre Tüte mit einem kleinen Fladenbrot, das sie an einer Kirchen-Ausgabestelle erhalten hat. Ein Brot für eine fünfköpfige Familie!
Aber es gibt auch Lichtblicke wie Khora. Der griechische Hilfsverein wurde 2017 von Geflüchteten aus verschiedenen Ländern gegründet. Sie sind für die Menschen da und sie wissen aus eigener Erfahrung, was wirklich gebraucht wird. Im Khora-Shop gibt es unentgeltlich Hygieneartikel und Kleidung. In der Khora-Kitchen verteilen Freiwillige (normalerweise) täglich 800 Essen. Vor Corona war dies eine Begegnungsstätte, in der die Menschen auch zusammensitzen konnten und die auch von sozial benachteiligten Griechen besucht wurde.
Mit Projekten wie Bastel-, Näh- und Strickangeboten schafft Khora Sinn und Selbstwert. Mit Khora-Leiter Ali sind wir in einen lokalen „Mini-Drogeriemarkt“ gegangen und haben für 2.000 Euro Seife gekauft. Er verteilt ungefähr 500 Stück pro Woche plus weitere Hygieneartikel. Täglich kommen bis zu 100 Menschen. Er geht sehr wertschätzend und herzlich mit den Menschen um und ist ein echter „Organisator und Macher“. Er ist dankbar für jede noch so kleine Spende.
Werner Klur hat die Woche in Athen verbracht, Untersuchungen, Besuche der Khora-Kitchen und eines Flüchtlingslagers standen auf seinem Programm.
Zu dritt sind wir weiter nach Lesbos geflogen. Im Vergleich zu Athen sehr überschaubar und die Menschen wissen, wo sie hier zum Beispiel medizinische Hilfe oder Hilfsgüter von privaten NGOs bekommen. Deshalb kommen auch einige aus Athen hierher zurück, weil sie dort so verloren sind. Aktuell leben 7.000 Menschen im sogenannten Kara Tepe 2-Lager, davon 40 % Kinder. Der idyllische Blick von Weitem bei schönem Wetter täuscht.
Hinter Stacheldraht auf Schotter, in Zelten direkt am Meer mit ewigem Nordwind im Winter sowie brütender Hitze ohne Schatten im Sommer, harren hier viele schon zwei bis drei Jahre aus. Junge Menschen aus Togo, dem Kongo, Afghanistan oder Syrien sind jetzt um die 20 Jahre alt und haben die vergangenen Jahre hier verbringen müssen. Ihre Heimat haben manche schon vor vier oder fünf Jahren verlassen. Es gibt wenig bis keinen Kontakt zu ihren Familien. Die besten Jahre ohne eine Chance auf Bildung, verloren und ohne Perspektive.
Drei junge Männer, die wir vor dem Camp treffen, betonen aber, dass sie versuchen mit Sport fit zu bleiben und dass sie weder rauchen noch trinken. Jede Nacht gebe es Schlägereien, man müsse schon sehr aufpassen. Die Zelte werden inzwischen schon wieder ausgebaut, jeder sucht ein bisschen Würde und Rückzugsraum.
Es gibt immer wieder Gewalt gegen Frauen. Die junge syrische Mutter mit ihren kleinen Mädchen ist total verzweifelt und würde uns ihre Kinder sogar mit nach Deutschland geben. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt und sie erhält – wie weitere 2.000 Menschen – jetzt nichts mehr, das heißt gar keine finanzielle Zuwendung. Für sie geht es weder vor noch zurück, sie ist eingesperrt in diesem Lager.
Viele Familien mit Kindern, allein reisende Frauen und unbegleitete Kinder waren bis vor kurzem in einem eigenen Lager, Kara Tepe 1. Jetzt wurde es geschlossen und mit dem alten Lager Moria zusammengelegt. Eine junge afghanische Mutter erzählt uns, dass sie jetzt große Angst hat und die Situation in diesem Moria-Nachfolge-Lager gerade für Frauen schrecklich ist. Keine vernünftigen Sanitäranlagen, nachts traut man sich nicht zur Toilette.
Die Begegnungen und Gespräche mit den Geflüchteten haben mir nochmal gezeigt, dass jede Hilfe zählt, denn diese Menschen haben es verdient, von uns gesehen und gehört zu werden. Die Dankbarkeit, dass sich jemand ihre Geschichte anhört und ihnen offen begegnet, war schon fast beschämend.
Ilona Fiedler
Für Säuglinge und Kleinkinder gibt es keine Extranahrung oder Milchpulver. Wasser gibt es nur aus Tanks, das Essen ist laut der Menschen schlecht und zu wenig. Solingen hilft unterstützt ein Wasserprojekt: gegen die Abgabe von zehn leeren Flaschen gibt es eine Flasche Trinkwasser, und gleichzeitig wird so der Müll im Camp reduziert.
Im Rahmen der medizinischen Hilfe hat Solingen hilft zusätzlich zur umfangreichen allgemeinen Medikamentenversorgung jetzt ein Krätze-Programm finanziert. Waschmaschinen, Trockner, Duschen wurden angeschafft und die speziellen und sehr teuren Krätze-Medikamente gekauft. Mit dem Partner vor Ort – Kitrinos Health Care – wurde alles installiert und die Menschen kommen jetzt dorthin, um zu waschen und sich zu duschen. Aktuell zeigt das Krätze-Programm gute Erfolge, die Zahl der Betroffenen geht zurück.
Nebenan gibt es noch weitere Hilfsgüter für Familien: Lebensmittel, Kleidung, Babynahrung. Aber bei mehr als 6.000 Menschen im Lager – 40 % davon Kinder – können die Familien nur alle drei Wochen eine Tüte mit Hilfsgütern bekommen. Unsere 2.000 mitgebrachten FFP 2-Masken wurden gerne genommen, denn jetzt erst starten erste Impfungen im Lager.
Die Menschen der gemeinnützigen Vereine vor Ort, die wir finanzieren, sind sehr engagiert. Unter anderem unterstützen wir ein Schulprojekt im Camp, das der Verein Stand by me Lesbos organisiert. Der griechische Lehrer Mixalis Aviotis erklärt uns, dass trotz Corona in den zwei Schulbussen, die auch von uns mitfinanziert wurden, täglich von 9 bis 19 Uhr unterrichtet wird. Die Flüchtlinge lernen hier Englisch und Griechisch.
Die Geflüchteten selber sind Aktive und Lehrer in dem Projekt. So wird das Prinzip der Selbsthilfe umgesetzt und die Menschen erleben ein Gefühl von Wirksamkeit und Würde durch ihre Aufgabe. Die Bedürfnisse der Menschen stehen im Mittelpunkt. So gibt es Unterricht eigens für Frauen, so dass in einem geschützten Raum nicht nur gelernt wird, sondern auch die Sorgen und Probleme zu Themen wie Geburt, Verhütung und Hygiene angesprochen werden können. Die Frauen können so angstfrei lernen und für sich und ihre Kinder eine Zukunftsperspektive schaffen. Die Lehrerinnen und Lehrer werden jetzt auch für die Impfung werben und die Menschen aufklären.
Letzte Station war der Verein Earth Medicine in Mythelini. Hier erhalten die Geflüchteten physiotherapeutische Behandlung. Seit zwei Jahren werden viele Menschen mit zum Teil schweren körperlichen Einschränkungen behandelt. Mehr als 130 Stunden Behandlung pro Woche finden hier statt. Wir werden dort zukünftig auch Personal finanzieren.
Fotos: Solingen hilft e.V.